NIEMALSALLEIN

Der Schnee hat sich auf den kleinen Friedhof in Empede gelegt, und er macht diesen Ort der Ruhe bei Neustadt am Rübenberge noch ein bisschen ruhiger.

 

Nur wenige Fußspuren sind im Schnee zu erkennen, sie alle führen zu einem Grab, an dem ein steinernes Kreuz steht, das ein ganz kleines bisschen nach links geneigt ist. Auf dem Kreuz steht der Name von Lara Enke, die im Alter von zwei Jahren gestorben ist. Darunter stehen in schnörkelloser Frakturschrift der Name von Robert Enke und sein Geburts- und Todesdatum. Vater und Tochter. Es ist nicht zu übersehen, dass auf dem Kreuz kein Platz für einen zweiten Namen vorgesehen war, aber der 10. November 2009 hat so vieles durcheinandergebracht, nicht nur im kleinen Empede. Vor drei Monaten, am 10. November, einem nasskalten Tag, hat sich Robert Enke, Fußball-Nationaltorwart, Kapitän von Hannover 96, das Idol vieler Menschen, das Leben genommen. Drei Monate fühlen sich so unendlich lange her an, weil seitdem so viel passiert ist auf der Welt, in Deutschland, in Hannover, im Fußball, bei 96, Enkes Klub, der seitdem kein Spiel mehr in der Bundesliga gewonnen hat. Und drei Monate fühlen sich an wie ein Tag, weil Robert Enke für viele Menschen noch immer irgendwie dabei ist, im Kopf, im Herzen; es ist schwer, dafür die passenden Worte zu finden. Es ist manchmal völlig irrational wie vor zwei Tagen im Bremer Weserstadion. In der 1. Halbzeit war der Bremer Torwart Tim Wiese im Pokalspiel gegen Hoffenheim an einer Flanke vorbeigesegelt; Torhütern passiert das, auch guten Torhütern. Und doch denkt man auf der Tribüne an Enke und dass ihm das nie passiert ist, und es geht dabei gar nicht darum, ob das wirklich stimmt mit der Fehlerlosigkeit bei Flanken (gefühlt: es stimmt!), sondern darum, dass in solchen Momenten im Kopf ein Spielfilm abläuft, in dem Enke plötzlich auftaucht aus den Erinnerungen wie ein Schiff auf dem Meer aus dichtem Nebel. Vielleicht ist dies das Wichtigste drei Monate nach seinem Tod: Dass sich in dieser Hinsicht nichts verändert hat, dass man an Enke denkt, über ihn spricht so wie früher. Und sonst? War es nicht der Wunsch von allen, dass sich etwas ändert, im Leben und im Fußball, vor allem, dass es im Leben mehr gibt als Fußball, zusammengefasst in dem Satz von Theo Zwanziger, dem Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB): „Fußball ist nicht alles.“ Drei Monate nach dem Freitod ihres Mannes hat Teresa Enke in Hannover das Konto für die Robert-Enke-Stiftung eröffnet (Kontonummer: 442 48 00, BLZ 250 400 66 bei der Commerzbank Hannover). Die Stiftung wird Maßnahmen und Initiativen fördern, die der Aufklärung, Erforschung und Behandlung der Depression dienen, jener Krankheit, die für den Torwart jahrelang der hinterhältigste Gegner war und für ihn unbezwingbar wurde, weil er Angst hatte, beim Bekanntwerden seines Leidens alles zu verlieren, was ihm wichtig war. Teresa Enke hat mit ihrem mutigen Schritt in die Öffentlichkeit vielen Menschen, die an Depressionen leiden, ein Stück von dieser Angst genommen, ihnen Mut gemacht, einen anderen Weg als ihr Mann zu finden. Der DFB, der Ligaverband und Hannover 96 unterstützen großzügig die Stiftung, die sich zudem für an Herzkrankheiten leidende Kinder engagieren wird. Es ist ein Engagement im Sinne von Zwanzigers "Fußball ist nicht alles", weil der Fußball seine Finanzkraft und seine Popularität verbindet mit seiner sozialen Kraft. Aber Zwanziger wünschte sich ja mehr: "Ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen, des Nächsten, des anderen. Das wird Robert Enke gerecht." Es waren schöne und naive Worte in einer Welt, die oft nur einen Wimpernschlag innehält und dann einfach weitermacht wie vorher. Auch der Fußball hat weitergemacht wie vorher. Im ersten Länderspiel nach Enkes Tod, drei Tage nach der Trauerfeier, haben deutsche Fußballfans den Stürmer Mario Gomez ausgepfiffen, als er eingewechselt wurde. Keinen Monat später hat in Stuttgart ein Mob die Entlassung von Trainer Markus Babbel gefordert, mit Gesten, die keine Zweifel ließen, dass diese sogenannten Fans nicht nur Babbels Job, sondern seinen Kopf wollten. Babbels Bruder hatte sich 20 Jahre zuvor wie Enke vor den Zug geworfen. Der FC Bayern hat vor dem Heimspiel zum Rückrundenstart auf der Videoleinwand im Stadion einen kleinen Film gezeigt, in dem Münchener Spieler für Respekt warben vor dem Gegner und den gegnerischen Fans; der Profi Bastian Schweinsteiger bat um Verständnis für den Schiedsrichter, der im Fußball den unangenehmsten Job hat, weil er in der Regel für eine Seite immer der Sündenbock ist. 50 Spielminuten später, der Schiedsrichter hatte aus Sicht der Bayern-Anhänger gerade ihrer Mannschaft einen Elfmeter verweigert, war auf den Rängen das Lied "Oh hängt ihn auf ..." zu hören. Hannover 96 hat zwei Monate nach dem Tod seines Kapitäns den Trainer Andreas Bergmann gefeuert, weil er – ohne dass es wörtlich so begründet wurde – zu weich war. Das liest sich erst einmal befremdlich, denn auch Enke war das, was man einen weichen Menschen nennt. Nach einer Testspielpleite in Berlin hat Sportdirektor Jörg Schmadtke gesagt: "Wer nicht mitzieht, der muss aussortiert werden." Mit Zwanzigers Wünschen im Hinterkopf zieht sich bei diesen Worten erst einmal der Magen zusammen. Aber was sollen Verantwortliche für eine Profifußballelf machen, die in eine Situation gerät, für die kein Handbuch eine Lösung parat hat? Und was würde die Zeitung schreiben, wenn einer wie Schmadtke Nachlässigkeiten duldet, wenn am Ende der Abstieg in die 2. Liga steht? Martin Kind, dem 96-Klubchef, ist Enkes Tod ungemein nahegegangen. Und trotzdem sagt er emotionslos, dass es im Fußball im Mai niemanden interessieren wird, was im November geschehen ist. Man möchte ihm gerne widersprechen, aber es ist zu befürchten, dass es genauso wäre. Es war viel davon zu lesen, dass der dramatische sportliche Absturz von 96 mit dem dramatischen Ereignis in Verbindung steht. Das stimmt. Und stimmt nicht. "Hier und da spürt man in Einzelgesprächen, dass sich einzelne Spieler im Hinterkopf noch mit Roberts Tod beschäftigen", sagt Trainer Mirko Slomka, "aber keiner ist dadurch gehemmt." 96 fehlt es ohne den besonderen Menschen Enke an Wärme und Seele, der Mannschaft aber fehlt vor allem der herausragende Torwart Enke. Im Fußball, vor allem im Abstiegskampf, ist der winzige Unterschied zu spüren, der zwischen einem guten Torwart (und das ist Florian Fromlowitz) und einem sehr guten Torwart besteht. Vielleicht noch mehr bräuchte diese rätselhafte 96-Mannschaft die Führungspersönlichkeit Enke. Ein Spieler hat kürzlich erzählt, dass einer wie Michael Tarnat, der seine Karriere beendet hat, früher einen Kollegen schon mal kräftig zusammengestaucht hat. So einen wie Tarnat braucht eine Mannschaft. Robert Enke war die andere große Führungspersönlichkeit. Er ist nie laut geworden. Enke ist in der Kabine langsam aufgestanden, und schon war Ruhe, und alle haben ihm zugehört. Ohne so einen wie Enke kann eine Mannschaft nicht. Bundestrainer Joachim Löw hat vor ein paar Tagen gesagt, dass die Nationalelf bei der WM in Südafrika "verstärkt an Robert denken und für ihn spielen wird". Spielen für Robert: Vielleicht klappt das drei Monate nach seinem Tod auch bei Hannover 96 bald besser.

 

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