Angst vor dem zweiten Scheitern
Um die Magie von Milovanovic‘ Treffer zu begreifen, muss man an die Ausgangslage vor dem zweiten Relegationsspiel zwischen Hannover 96 und Tennis Borussia Berlin erinnern. Die Roten hatten das Hinspiel im Berliner Mommsenstadion nach einer schwachen Leistung mit 0:2 verloren. Dass der 24. Mai 1998 ein historisches Datum werden würde, stand im Grunde schon vorher fest. Die Optimisten glaubten daran, dass es der Tag werden würde, an dem der Verein den Betriebsunfall aus dem Jubliläumsjahr 1996 reparieren und in die 2. Liga zurückkehren würde. Die Pessimisten, und davon gab es damals viele, erwarteten den 24. Mai 1998 als schwarzen Tag, an dem sich 96 für lange Zeit aus dem nationalen Blickfeld verabschiedet. Würde sich der damals auch finanziell schwer angeschlagene Klub davon erholen, ein zweites Mal in der Relegation zu scheitern, so wie 1997 unter mehr als unglücklichen Umständen an Energie Cottbus?
Wettlauf mit der Zeit
Man muss das alles im Hinterkopf haben, wenn man heute noch einmal in die Schlussphase des Rückspiels zwischen 96 und "TeBe" vor 20 Jahren taucht. Erst dann versteht man die Dramatik, die damals 50 000 mit jeder Faser spürten. Nach sechs Minuten erzielte Gerald Asamoah mit einem Flugkopfball das 1:0 für Hannover 96. Noch ein Tor bis zum Gleichstand, noch zwei Treffer bis zur 2. Liga – und noch 84 Minuten Zeit. 96 gegen "TeBe", Teil 2, entwickelte sich zu einem Fußballkrimi. 96 bestimmte das Spiel, aber mit jeder Minute, die verging, wuchs die Nervosität, zumal es nach der Pause trotz Überlegenheit nur noch wenige hannoversche Chancen gab.
Rasiejewskis Super-Grätsche
Die Zeit lief, und sie lief gegen 96. Jedem war klar, dass bald nur noch etwas aus der Kategorie Wunder helfen würde. In der 83. Minute starteten die Berliner einen Konter, den Jens Rasiejewski mit einer der wichtigsten und großartigsten Grätschen der Vereinsgeschichte unterband. Eine Szene, die beim Blick zurück oft untergeht, hier aber ausdrücklich gewürdigt wird. Denn ohne Rasiejewski-Grätsche kein Milovanovic-Fallrückzieher, und ohne Milovanovic-Fallrückzieher kein Elfmeterschießen mit 96 als Sieger. Aber so weit sind wir ja in diesem Moment noch nicht.
Akrobatisch schön
Über Rasiejewski landet der Ball bei Fabian Ernst, danach bei Asamoah, Damian Brezina und wieder Ernst, mittlerweile läuft die 84. Minute. Ernst entscheidet sich für eine Flanke, die auf den ersten Blick zu lang zu geraten scheint, aber Carsten Linke gewinnt das wichtigste Kopfballduell seines Lebens und befördert den Ball in die Mitte des Fünfmeterraums.
Dort steht "Milo" – leider mit dem Rücken zum Tor. Wenn man Milovanovic heute fragt, was er damals in dem Moment gedacht hat, dann kann er das nicht genau sagen. Vermutlich denkt man in solchen Momenten auch nicht, sondern handelt instinktiv. So wie Milovanovic, der sich für die schwierigste Variante entscheidet und sie mit einer atemberaubenden Akrobatik umsetzt. "Schauen Sie", sagt der damalige Kommentator Gerhard Delling während der Fernsehübertragung beim Einspielen der Zeitlupe, "akrobatisch … klasse gemacht". Milovanovic, erst in der 61. Minute eingewechselt, ist zu diesem Zeitpunkt längst unterwegs Richtung Nordkurve, reißt sich sein Trikot mit der Nummer 7 vom Kopf und lässt sich feiern.
Elfmeterheld Sievers
Den Rest kennen auch 96-Fans, die damals noch nicht geboren waren. In der Verlängerung passiert nichts mehr, im Elfmeterschießen wird Torwart Jörg Sievers, unser heutiger Torwarttrainer, zum Helden, als er gegen die Berliner Akrapovic und Copado pariert und Isa derart einschüchtert, dass dieser rechts vorbeischießt. Die Zeitungen in Hannover sprechen nach dem 5:1-Sieg nach Elfmeterschießen vom "Aufstiegswunder".
Sagenhafte 49 Tore
Und Milovanovic? Für ihn endet am Saisonende "meine tolle Zeit bei 96". Nach 58 Ligaspielen und sagenhaften 49 Toren geht er wegen Differenzen mit Trainer Fanz zu Eintracht Braunschweig, wo er genauso wenig glücklich wird wie danach bei Arminia Hannover, Austria Lustenau und Babelsberg 03, wo er 2002 seine Karriere beendet. Fast zehn Jahre lang hat er keinen Kontakt mehr zu 96, verfolgt aber jede Saison, informiert sich über das Geschehen im Verein und freut sich sehr, als er von Martin Kinds Antwort auf die Frage nach dessen besonderen, emotionalen 96-Augenblicken hört. "Na klar, das Aufstiegsspiel gegen TeBe Berlin und dieses super Fallrückziehertor", hat der 96-Klubchef vor kurzem gesagt.
Eine Liebesbeziehung
Milovanovic wohnt heute wieder in seiner serbischen Heimat. Er hat dort bei Napredak Krusevac Jugendteams trainiert und mit einem Freund eine Soccerhalle gebaut. "Ich habe in Hannover der Stadt, den Fans und dem Verein mein Herz gegeben und viel, viel Liebe zurückbekommen", sagt er. Noch immer wird er von Menschen auf sein Fallrückziehertor vor 20 Jahren angesprochen. "Der Treffer war einer der schönsten Momente in meinem Leben", sagt Milovanovic. "Zusammen mit der Geburt meiner Kinder." Irgendwie ja auch immer kleine Wunder.
hr